Oliver Schmidt

Deutsche Vita

Ich bin ein Haus. Ich habe viele Räume, Kammern, Zimmer, Stuben, Gänge und Treppenhäuser. Menschen werden hier geboren, Menschen sterben. Menschen ziehen ein, andere ziehen aus. Ich bin ein Haus. Mein Name ist Deutschland.

Das Sommerhaus am See steht rund 300 Meter von meiner Wohnung in Großglienicke, es ist heute bekannt als das „Alexanderhaus“. Der englische Autor und Historiker Thomas Harding beschreibt es in „Sommerhaus am See“. Das Buch beginnt als Familiengeschichte, seine Familiengeschichte. Sein Urgroßvater, der jüdische Arzt Alfred Alexander, baute das Häuschen auf dem Pachtgrund eines Gutshofs vor den Toren Berlins. Die Familie muss bald vor den Nazis nach England flüchten und wird enteignet.

Hier beginnt für mich das Wunder des Buches. Thomas Harding erzählt nicht etwa seine Familiensaga weiter, sondern verweilt im Haus. „Sommerhaus am See“ beschreibt die Vorgeschichte und das Leben von insgesamt vier Familien, die im Haus den Krieg, den Mauerbau (quer durch den Garten) und die Nachwendezeit erlebt haben. Diese Perspektiven bewegen und schaffen Einblicke in 100 Jahre deutsche Geschichte. Deutsche Vita in Großglienicke.

Was wäre, wenn wir unsere Geschichte, deutsche Geschichte, ebenso betrachten, verstehen und erzählen? Als die Geschichte eines Hauses, in dem Menschen wohnen. Sie prägen es, sie gestalten es, sie bringen ihre Vorgeschichte aus allen Teilen unserer Welt mit. Ihre Geschichte ist deutsche Geschichte. Türkei, Russland, Polen sind die Herkunftsländer der größten Zuwanderungsgruppen nach Deutschland. Viel weiß ich nicht über das Leben der Menschen und das ihrer Familien dort. Ich weiß nichts über den Weg, den sie nach Deutschland gemacht haben und wenig über ihre Gründe. Ihre Geschichten fehlen in der deutschen Geschichtsbetrachtung, sie prägen aber unser gemeinsames Land. Ganz bestimmt werden sie irgenwo erzählt, in Foren, Facebookgruppen, auch an Lehrstühlen, die extra hierfür eingerichtet wurden. In meinem Geschichtsunterricht kamen sie nicht vor und stehen auch heute noch nicht auf dem Lehrplan. Uns fehlt dadurch ein großes Stück zu unserem eigenen Verständnis.

Deutschland macht sich klein, wenn es seine eigene Entstehung und Entwicklung wie einen Stammbaum betrachtet. Nicht nur die Gegenwart ist global, Völker und Regionen waren schon immer miteinander verbunden und verwoben, voneinander abhängig, füreinander da oder gegeneinander positioniert – aber niemals isoliert.

Ich bin ein Haus unter vielen Häusern. Mein Name ist Deutschland.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert