Die Redaktion meines drittliebsten Senders ‚Radio Eins‘ twitterte kürzlich:
„Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt. #HermannHesse“
Liebe ‚Radio Eins‘ Redaktion, lieber Hermann Hesse, der Du mit Siddhartha den Gott meiner Jugend schufst, hierzu stellen wir folgendes fest: Es ist meist umgekehrt, da kommt das Nachdenken entweder überhaupt nicht, oder erst hinterher. Und das ist gut so.
Nehmen wir als Bild zur Veranschaulichung der Schrittfolge des Nachdenkens und Handelns eine Situation aus der klassischen Markt- oder Verhaltensforschung, den Kaufentscheidungsprozess. Der läuft in der Regel so ab, dass ich etwas kaufe, ohne vorher oder hinterher groß in Exerzitien zu gehen. Der Ablauf lässt sich übersichtlich so beschreiben:
1. Ich kaufe einen Schokoriegel. (das wars)
Beim Kauf eines Schokoriegels gehe ich kein hohes Kaufrisiko ein. Ich kenne das Produkt aus Erfahrung, der Preis ist im Verhälnis zu meinem Nettomonatslohn (vermeintlich) niedrig, deshalb agiere ich spontan, sobald Lust und Angebot zusammenkommen. Der Ablauf ändert sich erst, wenn mich im Nachhinein etwas Unvorhergesehenes aus der gewohnten Bahn wirft, der Schokoriegel von meinen Erwartungen abweicht, oder ein äußerer Umstand die Situation beeinflusst. Äußert sich beispielweise nach dem Kauf jemand über Kalorien oder Umweltbelastung durch Verpackung, könnte Nachdenken tatsächlich eine unerwartete Nebenwirkung sein. Der Ablauf ist dann der:
2. Ich kaufe einen Schokoriegel. Ich bewerte den Kauf nachträglich.
Die Nachkaufbewertung wird durch positive oder negative Normabweichung ausgelöst, wobei Abweichung von der Norm in der Regel grundsätzlich negativ empfunden wird. Sollte ein Snickers überraschenderweise leckere Rosinen enthalten, wäre ich trotzdem nicht erfreut. Standardisierung ist in der Lebensmittelindustrie eines der höchsten Qualitätsversprechen (wie traurig, wenn wir uns daran erinnern, wie unterschiedlich Äpfel, Kartoffeln oder die Pfannkuchen unserer Großmütter früher beschaffen waren).
Erst wenn ich ein hohes Kaufrisiko eingehe, denke ich vorher darüber nach. Vor dem Kauf eines Autos ziehe ich die Familie, Freunde und meinen Steuerberater zu Rate, vergleiche Modelle, Preise und Finanzierungsmöglichkeiten mache Probefahrten – bis zu einem Jahr kann sich der Prozess des Nachdenkens hinziehen.
3. Ich wäge die Anschaffung eines Autos sorgfältig, lange und gemeinsam mit Anderen ab und entscheide dann. Ich kaufe ein Auto. Ich bewerte den Kauf nachträglich.
Das ist im Management und überhaupt im Leben nicht anders. Würden wir über jede Handlung nachdenken, ich säße wahrscheinlich zwei Tage an diesem kurzen Artikel. Stattdessen fliegen meine Finger wie von Geisterhand gesteuert – nein, gejagt – über die Tastatur, die Gedanken rufen im Vorbeiflüchten „Endlich frei, endlich raus!“ – und manifestieren sich sogleich am Bildschirm. Die Bewertung meines Handelns aber, das Nachdenken darüber, findet anschließend statt – ich schaue noch mal drüber. Und sollte ich jetzt negative Reaktionen bekommen, denke ich über diesen Artikel wahrscheinlich noch einmal ganz anders nach.
Es sind die Handlungsroutinen, die uns befreien von der Qual des Denkens, Grübelns und Zauderns. Erfahrene Entrepreneurs handeln intuitiv, denn Intuition ist destillierte Erfahrung. Wo andere erst Analysen studieren und Strategien entwickeln, sind geübte Unternehmerinnen schon einen Schritt weiter. Alten Säcke können sich auf ihr Gefühl verlassen (ja, lieber Leser, hier bekommt mein Artikel seine autobiografische Note).
Und manchmal, und diese Situationen wird Hermann Hesse gemeint haben, sollte erst gedacht und dann gehandelt werden. Der Zögernde ist manchmal einfach ein kluger Mensch. Der Klügere denkt nach – wann auch immer.
P.S.: Danke an das Team Aivy für die Schoko!