Oliver Schmidt

Über unsere Verhältnisse

Wir können gerade dabei zusehen, wie die Welt sich verändert, so schnell ging es noch nie. Ebenso sehr, wie jede Einzelne* gerade ausgebremst wird, beschleunigt der Katalysator Corona soziale Reaktionen in Nervenbahnen, Muskelfasern und Kapillaren unserer Gesellschaft, die wir vor Corona kaum wahrgenommen hatten. Wissenschaft bestimmt unseren Weg, Homeoffice unseren Tag und Distanz zum Nächsten erklärt sich zur Tugend – einiges davon wird bleiben. Wenn auch die Diskussion in den „Sozialen Medien“ den üblichen, krawalligen Ton nicht abgelegt hat, scheinen doch selbst dort unsere Sinne geschärft für das, was wir wissen und verstehen wollen. Was ist uns wichtig – auch diese Frage beantworten viele von uns gerade neu.

*Sofern nicht konkrete Personen gemeint sind, verwende ich in meinen Artikeln ab sofort die weibliche Form – selbstverständlich sind alle weiteren geschlechtlichen Identitäten ebenso gemeint und angesprochen.

Nie war es so sexy zu sagen „Ich bin Virologin“
Unser Verhältnis zur Wissenschaft

Unser Verhältnis zur Wissenschaft verändert sich. Professor Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité, regierte für wenige Wochen unser Land, und das war gut so. Mittlerweile haben wir verstanden, dass Drosten und all die anderen Wissenschaftlerinnen eben keine Politikerinnen sind, die Fakten aller Ebenen abwägen, um dann Entscheidungen zu treffen. Als Virologe will er den Shut Down, um Corona zu besiegen. Er ist kein Allrounder, sondern Experte – dieser Unterschied ist entscheidend.
Zurzeit sind Medizinerinnen gefragt, Wirtschaftswissenschaftlerinnen melden sich gerade erst zu Wort und in Zukunft brauchen wir die Sozialwissenschaften, die Psychologie und ein paar Ethikerinnen oder Philosophinnen wären auch nicht schlecht, um das Steuer während und unseren Kompass nach der Krise zu justieren.
Und noch etwas benötigen wir. Wissenschaft beruht auf Daten. Das Spannungsfeld zwischen Datenschutz vor Missbrauch und Datennutzung für die Wissenschaft muss ernster genommen werden, und zwar von jedem Einzelnen. Es geht nicht an, dass ich mich vor Facebook, Amazon und Google nackig mache, der Forschung aber aus Angst meine Handydaten verwehre. Natürlich muss ich sicher sein, dass Informationen, die ich weitergebe, am Ende doch auf irgendeinem kommerziellen Grabbeltisch landen – dafür muss die Politik sorgen.

Social Distancing hat es nie gegeben, im Gegenteil
Unser Verhältnis untereinander

2 Meter Abstand sind Physical Distancing – sozial rückten Viele gerade sehr zusammen: Nachbarinnen, Familien und selbst Kolleginnen, deren Videokonferenzen plötzlich munterer, motivierter und emphatischer verliefen, als sie es aus dem Büroalltag („schon wieder ein Meeting“) gewohnt waren.
Für manche wird es zu eng, Themen wie Gewalt durch Männer und Kinderarmut kommen dadurch, dass sie sich verschärfen, ans Licht – aber sie waren immer schon da, und werden es schlimmstenfalls immer sein. Oder können wir etwas tun? Müssen wir es als gegeben hinnehmen, dass Frauen zu Hause in erschreckendem Ausmaß gefährdet sind, dass es täglich Tötungsversuche von Ehemännern gibt, 100 Tote Frauen, in ihrem zu Hause, jedes Jahr? Und wie soll eine Familie, eine liebende Mutter, ein Vater sein Kind mit 3 Euro pro Tag ernähren? Für Familien in Hatz IV sehen wir das so vor.

Autorität kann so gemütlich sein
Unser Verhältnis zur Politik

Die Demokratie hat Corona Ferien, und es fühlt sich nicht immer schlecht an. Sicher, Familien, insbesondere Alleinerziehende verzweifeln an der derzeitigen Situation ebenso wie Selbstständige und große Unternehmen. Und doch wird der Ruf nach autoritären Maßnahmen, die uns Sicherheit versprechen, oft mit Begriffen wie „Verantwortung“ (durch die, die anordnen) und „Helden“ (diejenigen, die ihnen folgen, zum Beispiel indem sie zu Hause bleiben) dekoriert. Meine eigene Gefühlswelt sagt: Solange Söder alles richtig macht, soll er gerne durchgreifen. Diese Haltung ist gefährlich, denn Prinzipien sollten so klug sein, dass sie universell funktionieren. Wie können wir Regeln so formulieren, dass sie im Alltag funktionieren und im Chaos nicht außer Kraft gesetzt werden können. Wahrscheinlich ist das Gesetz zur Schuldenbremse ein gutes Beispiel: Bund, Länder und Kommunen dürfen keine neuen Schulden machen, außer in Katastrophensituationen. Die Herausforderung besteht darin zu bestimmen, wer die Katastrophe definiert und wer den Notstand ausruft.

Engländerinnen 50+ kennen diese Softdrinks

Nichts führt so sicher zur Entstehung einer Panik, wie der Ausruf „Keine Panik“
Unser Verhältnis zum Konzept der Sicherheit

Einer unter vielen guten Aspekten dieser schlimmen und belastenden Krise ist der Umstand, dass wir derzeit vieles über Wirtschaft und Gesundheit erfahren. Zum Beispiel die Tatsache, dass beides untrennbar zusammengehört, und zwar nicht, weil das Gesundheitssystem ökonomisiert wurde, sondern weil es zwangsläufig und immer so ist.
„Flatten the Curve“ war und ist deshalb eine vernünftige Parole, weil wir nur eine bestimmte Kapazität an Krankenhausbetten, Geräten und Fachpersonal bereitstellen, sagen wir Menge X. Sobald diese Kapazität überschritten wird, kostet es Menschenleben. Nun wird der Ruf nach Betten, Beatmungsgeräten und Personal laut, und niemand wird sich finden, der sagt „brauchen wir nicht“. Wenn wir Kapazitäten für den Notfall erhöhen, kostet das schlicht Geld – und steht im Normalfall ungenutzt herum. Die Gesundheit und Sicherheit aller Menschen sollte es uns wert sein – aber hier kommt die Wirtschaft ins Spiel. Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden, die Bereitstellung der Kapazität X-plus kann dann eben nicht in Bildung, Sozialleistungen und Kultur fließen. Vor diesem Dilemma stand Politik vor der Krise und sie wird es danach immer noch tun. Nur den meisten Meisten Menschen sind Zusammenhänge jetzt klarer, wir können selbst Prioritäten besser setzen und nicht nur mitbestimmen, sondern mitgestalten. Wieviel Sicherheit wollen wir uns leisten? Und wieviel Unsicherheit sind wir bereit auszuhalten, um im Heute gut zu leben?

Was ist ein Menschenleben wert?
Unser Verhältnis zur Wahrheit

An die Frage, wieviel Geld wir heute in ein Gesundheitssystem stecken, das morgen im Worst-Case überlastet sein wird (und die Frage ist niemals ob, sondern immer nur wann), schließt sich die Diskussion an, was uns das Leben eines Menschen wert ist. Diese Frage mag zynisch sein, sie schmerzhaft und sie ist unvermeidlich.
Steckt jemand, sagen wir um es zu zuzuspitzen, ein Kind, in einer lebensbedrohlichen Situation, gibt es keine Grenze für das, was getan wird. Dafür gab es immer wieder Beispiele, wie den traurigen Tod des zweijährigen Julen 2019, der in Spanien in einen Schacht fiel. Um ihn zu retten, was am Ende unglücklicherweise scheiterte, wurden tagelang unter hohem Einsatz Schächte gegraben und Löcher gebohrt.
Je mehr sich die Not verbreitert und anonymisiert, je weniger das Schicksal individuell wahrgenommen wird, und je weiter ein Mensch räumlich von uns entfernt ist, desto weniger Aufwand wollen wir zur Lebensrettung betreiben. Den Autoverkehr einstellen um 3.000 Verkehrstote jährlich in Deutschland zu vermeiden? Zu aufwendig. Medikamente auch für seltene Krankheiten mit Milliardenaufwand aus Steuermitteln entwickeln? Das Geld wird anderswo dringender gebraucht. Beatmungsgeräte nach Italien schicken? Aber die werden doch hier gebraucht…
Die Frage, wieviel ein Menschenleben wert ist, steht immer im Raum, egal wie sehr wir uns um eine Antwort drücken. Vielleicht nutzen wir die Krise, um ehrlich darüber nachzudenken, welches Wertesystem wir um uns herum aufgebaut haben – und wie wir es zukünftig justieren wollen.

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