Oliver Schmidt

Wie Innovation gelingt (oder zumindest nicht permanent verhindert wird)

Im Wald, zwei Pfade boten sich mir dar. Ich ging den, der weniger betreten war – das änderte mein Leben. Robert Lee Frost

Was Gelingensfaktoren der Innovation für Unternehmen und Organisationen sind, darüber ist viel gesagt und geschrieben worden, auch dieses Blog bezieht sich immer wieder auch auf diese Frage. Wir haben bereits festgestellt, dass keine innovative Produktentwicklung ohne Geschäftsmodellentwicklung möglich ist, denn was ist schon ein guter Hammer, wenn wir uns nicht gleichzeitig darüber kreative und kluge Gedanken machen, wer diesen Hammer wo kaufen soll und welche Serviceleistungen wir mit ihm anbieten?Aber erste wenn wir Kunden dauerhaft einbinden, zum Beispiel um untereinander als Community unsere Produkte zu besprechen und gemeinsam mit uns ihren Nutzen weiterzuentwickeln, wird aus unserer Arbeit eine runde, sinnvolle und nachhaltig funktionierende Sache. Denn Geschäftsmodellentwicklung funktioniert nur dauerhaft und nachhaltig mit der Entwicklung unserer Organisation. Belanaced Environment nennt diese Beziehungen Living Network.

Warum aber scheitern Unternehmen überhaupt daran, flexibel auf veränderte Bedingungen zu reagieren? Was ist so schwer daran, äußere Umstände und ihre Auswirkungen auf Kundenbedürfnisse und Kundenbeziehungen zu analysieren, die passenden Schlussfolgerungen zu ziehen und zu handeln?

In der Regel wird das auf charakterliche Schwächen einzelner Beteiligter geschoben, als Arroganz oder Ignoranz des Managements beschrieben oder als strukturelle Trägheit des Systems, das sich in sich selbst gut eingerichtet hat und deshalb, so die bildhafte Vorstellung, satt und träge geworden ist. Diese Bilder mögen nicht ganz verkehrt sein und durchaus einen Teil der Wahrheit beschreiben, eines ist ihnen aber gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass „das Gute“ der Normalfall ist, dass die Wandelbarkeit von Unternehmen den Normalfall darstellt und das Management, dem es obliegt, die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen, diese nach sorgfältiger Analyse aller sichtbaren und potentiell vorhersehbaren Aspekte tatsächlich trifft und für ihre Durchführung sorgt.

Was aber, wenn nicht Flexibilität und Offenheit der Standard sind, sondern Organisationen mit der Zeit zwangsläufig auf Bahnen gelangen, die sie nur schwer verlassen können, selbst wenn es vernünftig und dem Unternehmen gedeihlich wäre? Georg Schreyögg und Jörg Sydow, beide Forscher der Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin, beschreiben diesen Umstand mit ihrem Modell der organisationalen Pfadabhängigkeit. Sie identifizieren modellhaft drei Phasen der Organisationsentwicklung, während derer sich der Entscheidungs- und Handlungsspielraum beteiligter Akteure mehr und mehr einengt. Vor allem aber geben ihre Forschungen Hinweise darauf, warum dies fast zwangsläufig so geschieht, und wie Organisationen dem entgegenwirken können.

In der Anfangsphase 1 besteht große Offenheit gegenüber zukünftigen Prozessen, die Handlungsmöglichkeiten („range of variety“) gehen gegen unendlich, alles ist möglich. Tatsächlich aber weist Schreyögg („In der Sackgasse – Organisationale Pfadabhängigkeit und ihre Folgen“, Georg Schreyögg in „OranisationsEntwicklung Nr. 1 / 2013“) ebenso wie Dave Snowden in seinem Konzept „Cynefin“ (A Leader’s Framework for Decision Making“, David J. Snowden und Mary E. Boone in Harvard Business Review, November 2007) darauf hin, dass es immer eine Vergangenheit gibt, die sich prägend auf unsere Gegenwart auswirkt – wir sind alle „Kinder unserer Zeit“, so Schreyögg. Hier werden Entscheidungen frei und eher an Ressourcen, also an Vorhandenem, als an konkreten Zielen orientiert getroffen.

Phasen der Pfadentwicklung (Quelle: Sydow/Schreyögg/Koch 2009)

Am Übergang zur Phase 2 steht ein Ereignis, oft ist es ein scheinbar kleines, zufälliges, das seine Schatten in die Zukunft wirft. Oft sind dies die Wahl eines Produktes, eines Betriebssystems oder einer Software. Ab hier („critical juncture“) sind Entscheidungen in unterschiedliche Richtungen noch möglich, die Zahl der Optionen ist aber geringer, als in der ersten Phase.
Man könnte auch sagen: Es ist die Wohlfühlzone für diejenigen, denen sowohl zu viele als auch zu wenige Optionen Angst machen. Phase zwei zeichnet sich dadurch aus, dass wir hinsichtlich strategischer Entscheidungen eine überschaubare Zahl an Möglichkeiten haben. Aus komplex (Phase 1) wird in Phase 2 kompliziert. Hier erscheint Zukunft berechenbar, aus Visionen werden Ziele, kleine Erfolge stabilisieren die Richtung als positive Rückkopplung und die ungewisse Zukunft erscheint mehr und mehr in klaren Umrissen. In der Regel wird eben dies als positiv wahrgenommen, denn wir sind nicht geschaffen für Ungewissheit. Dass Innovation, Offenheit und Flexibilität immer auf Multioptionalität beruht und damit auch immer auch mit Ungewissheit einhergeht, blenden wir gerne aus.

In Phase 3 schließlich sind Wege vorgegeben, eng und kaum noch zu verlassen. Im Handlungssystem stehen keine Alternativen mehr zur Verfügung, die Bindung an vorgegebenen Pfade ist total. Was sich eng, rigide und nach einer Dystopie von unfreiwilliger Gefangenschaft anhört, fühlt sich in der Wirklichkeit oft gar nicht schlecht, manchmal sogar kuschelig an. Erkennen, denken und entscheiden sind schließlich anstrengende und mit Risiken verbundene Vorgänge, auf die wir gut gerne verzichten können, oder? „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht“ hieß es in den 70ern in der Sponti-Szene – und das stimmt bis heute.
Dabei sind Routinen äußerst hilfreich und notwendig, um Kraft und Energie für andere, kreative Prozesse aufwenden zu können. Die Situation der Alternativlosigkeit wird in dem Moment ineffizient, wenn bessere Optionen zwar sichtbar werden, aber aufgrund vorher gefällter Entscheidungen nicht wahrgenommen werden können.

Die Pfadabhängigkeit in Organisationen fällt nicht vom Himmel, die Gründe liegen nicht in einem persönlichem Versagen der Verantwortlichen, in Charakterschwächen gar wie Arroganz oder Selbstüberschätzung – dies ist nur die Ebene, die wir wahrnehmen. Unbeweglichkeit ist strukturell bedingt.

Ein Prosit der Gemütlichkeit – Routinen sind hilfreich, wenn es darum geht, das Rad nicht täglich neu erfinden zu müssen oder das Kaffeepulver zu suchen. Wenn wir noch im Halbschlaf alle Zutaten sicher finden, reicht es, wenn wir nach dem ersten Kaffee wach sind – um uns dann auf andere Prozesse zu konzentrieren. Balanced Environment setzt genau hier an: Routinen sollen dort geschaffen werden, wo sie hilfreich und notwendig sind. Prozessoptimierung darf aber nicht dazu führen, dass kreative Felder unterbelichtet und strategische Fragen unbeantwortet bleiben. Lernprozesse müssen so gestaltet sein, dass Lernen nicht nur ein Einarbeiten und Wiederholen des Bewährten ist, sondern im Rahmen einer offenen, selbstkritischen und fehlertoleranten Unternehmenskultur alle Beteiligten Sinn und Zweck des organisationalen Handelns infrage stellen und kritisch beleuchten. Sogenannte „Best Practices“ sind meist nur exzellent, solange Rahmenbedingungen unverändert sind, deshalb muss viel Raum (und Geld) für Experimente bereitgestellt werden, um alte und vermeintliche „beste Praxis“ nicht nur nachzuahmen.
Schließlich ist es von zentraler Bedeutung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschiedlich voneinander zu betrachten. Verdienste und Misserfolge der Vergangenheit bieten vor allem Lerneffekte für die Zukunft, diese müssen gründlich und gemeinsam immer wieder von Neuem erarbeitet werden. Vergangene Ereignisse sind aber gerade keine reine Schablone für Zukünftiges. Etwas, was einmal gescheitert ist, kann morgen als Produkt genau das Richtige sein, und umgekehrt sind alte Rezepte schnell nicht mehr passend für aktuelle Probleme.

Balanced Environment beschreibt Felder der Organisationsentwicklung, und gibt Handlungsempfehlungen, wie wir uns zwischen ihnen frei bewegen können: Raus aus der Sackgasse

Fehlertoleranz und Offenheit im Umgang untereinander innerhalb der Organisation sind die wesentlichen Faktoren, um nicht in Pfadabhängigkeit zu geraten, bzw. Vorhandene Festigungen zu brechen und zu überwinden. Falschen Entscheidungen des Managements darf nicht immer wieder mehr Geld hinterhergeworfen werden, um Erfolge irgendwann für hohe Einsätze zu erzwingen, wo alternative Entscheidungen sinnvoller gewesen wären. Es liegt in der Natur komplexer Herausforderungen, dass sichere Vorhersagen nicht getroffen werden können, aber alle Vorgänge im Rückblick klar nachvollziehbar sind. Kurz gesagt: Hinterher sind alle klüger, dieser Umstand muss intern allen Beteiligten klar sein. Ein Unternehmen, dass nach innen offen und fehlertolerant ist, wird auch den Mut haben, nach außen, also Kunden und Partnern gegenüber, nicht die Welt im Alleinanspruch erklären zu wollen.

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